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Kritikpunkte und Position der Wiener Umweltanwaltschaft

Kritikpunkte

Die Sicherheitsprobleme wurden vom ukrainischen Komitee für staatliche Sicherheit (KGB) in der Bauphase vor 1979 dokumentiert. Unter anderem wurden sie auf mangelnde Qualität jugoslawischer Zulieferer zurückgeführt. Die Sicherheitsprobleme insgesamt lagen vor allem in folgenden Bereichen:

  • In der Siedewassertechnik wurde in Ost und West in der Regel auf ein Containment verzichtet. Der gewaltige Reaktorblock eines RBMK war nur durch eine hermetische Zone aus Schwerbeton, das biologische Schild und eine dünne Stahlhülle gegenüber der Umwelt abgeschirmt. Das obere Ende der fast 1.700 Brennstoffkanäle war ständig erreichbar. Eine Beladung während des Betriebs war vorgesehen.
  • Das Kühlmedium Wasser wurde nicht gleichzeitig auch als Neutronenmoderator verwendet. Dies ist in den meisten KKW üblich. Die Kernspaltung lief auch nach Kühlmittelverlust weiter. Diese Eigenschaft in Kombination mit groben Handhabungsfehlern führte mit zur Reaktorkatastrophe.
  • Beim RBMK handelte es sich um einen Siedewassertyp. Derselbe Wasserkreislauf, der durch den Reaktor führt, durchströmt als Dampf auch die Turbinen. Damit gehört das Maschinenhaus zu einem radiologisch kritischen Bereich. Es existierten zwei getrennte Kreisläufe. Jede Turbine versorgte eine Reaktorhälfte. Die Systeme arbeiteten getrennt.
  • Da die RBMK-Blöcke drei und vier wie üblich für Blöcke der zweiten Generation als Zwillingsanlage gebaut wurden, verfügten sie zusammen über nur ein technisches Zwischengebäude. Risikoreiche Wechselwirkungen zu anderen intakten Blöcken können entstehen. Damals floss unter anderem radioaktives Kühlwasser mit Brennstofffragmenten in den Kellergeschoßen zu den anderen Blöcken. Dieses gefährdete vor allem elektrische Steuer- und Leistungskabel. In diesem Sinne ist auch die räumliche Nähe von Zwillingsblöcken problematisch.
  • Im letzten Rohrabschnitt wurden die Brennstoffkanäle separat mit Kühlwasser beschickt. Dies führte zu der gewaltigen Anzahl von Tausenden Druckröhren mit Zehntausenden Schweißnähten. Eine entsprechende Anfälligkeit für Leckagen war gegeben. Reißt eine untere Verbindung eines Brennstoffkanals ab, werden die beiden Brennelemente im Kanal nicht mehr gekühlt. Es kommt zu einer lokalen Kernschmelze mit möglicher Freisetzung von Radioaktivität in den Zentralsaal. Diese wird zwar durch Filteranlagen zum Teil zurückgehalten. Sie gelangt aber über den Abluftschornstein in die Umwelt. In der Vergangenheit passierten lokale Kernschmelzen in verschiedenen RBMK-Blöcken, unter anderem in Tschernobyl eins und in Sosnowi Bor (Leningrad). In letzterem wurden 1,5 Millionen Curie an Aktivität an die Umwelt abgegeben. Das entspricht etwa 0,5 Prozent der Freisetzung des Unglücks von Tschernobyl 1986.
  • Aufgrund der geringen Anreicherung und der anderen Moderationseigenschaften von Graphit gegenüber Wasser ist das Kerninventar (Uranmenge aus U235 und U238) mit fast 200 Tonnen pro Block weit größer als bei einem leistungsmäßig vergleichbaren Druckwasserreaktor. Im Falle einer Kernzerstörung ist die Menge an radioaktiven Stoffen etwa um denselben Faktor höher.

Position der Wiener Umweltanwaltschaft

Unverzüglich sollte auf eine Substitution aller RBMK-Reaktoren hingearbeitet werden. Die konstruktiven Sicherheitsmängel dieses Anlagentyps sind auch durch Nachrüstungen zum Teil nicht zu korrigieren. Auch im Normalbetrieb setzt ein RBMK etwa 40 Mal soviel Radionuklide über Wasser und Abluft in die Umwelt frei wie ein moderner Druckwasserreaktor (Vergleichsdaten etwa vom Temelintyp WWER-1000/320).

Aufgrund der sehr schwierigen wirtschaftlichen Lage in der Ukraine sind zahlreiche Großanlagen in einem verhältnismäßig schlechten Zustand. Unter ihnen befinden sich die 13 betriebenen Kernreaktoren. Die Ukraine erzeugt fast 50 Prozent ihres Stroms aus Kernenergie. Sie exportiert auch in westliche Länder.

Österreich hat 1992 einen Vertrag zur Strombeziehung aus der Ukraine abgeschlossen. Es ist nicht bekannt, ob dieser noch besteht. Die Wiener Umweltanwaltschaft lehnt einen solchen Vertrag ab. Eine nuklearkritische Haltung kann nicht glaubhaft vertreten werden, wenn gleichzeitig an relativ riskanten Projekten aus diesem Bereich partizipiert wird. Bereits innerhalb der Sowjetunion wurde ukrainischen Stellen ein ungenauer Umgang in verschiedenen Bereichen vorgeworfen.

Das Pro-Kopf-Einkommen in der Ukraine ist nur halb so hoch wie in Russland. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind für eine sichere Kernenergienutzung denkbar schlecht. Auf der anderen Seite sind die Alternativen durch Kohlekraft aus dem Donezkbecken nicht viel besser. Erneuerbare Energien sind aus Kostensicht in weiter Ferne. Als warnendes Beispiel kann ein Fall von Betriebssabotage erwähnt werden: Ein Techniker des KKW Juschnoukrainsk (Südukraine) musste monatelang auf sein Gehalt warten. Er führte bewusst die Notabschaltung aller drei Blöcke (vom Typ WWER-1000) herbei.

Gegenwärtig findet der SIP (Shelter Implementation Plan) große Beachtung. Dabei geht es um die Errichtung eines neuen Sarkophags um den havarierten Block. Nach Ansicht der Wiener Umweltanwaltschaft sollte dringend überprüft werden, ob dieses sehr kostspielige Programm notwendig ist. Sein Aufwand wird auf zirka 750 Millionen Euro geschätzt. Alternative Maßnahmen sollten gesucht werden. Das Bauvorhaben würde möglicherweise zahlreiche Mitarbeiter/innen von Konstruktionsfirmen und der Baustelle unnötiger Bestrahlung aussetzen. Es würde Gelder verschlingen, die anderswo weit mehr benötigt werden. Erfolgreiches Risikomanagement liegt nicht in der "Umbettung von Toten". Es konzentriert sich auf bestehende Risiken und Gefahren. Der Sarkophag ist kein optimaler Einschluss des havarierten (zerstörten) Reaktors. Er wurde unter unmenschlichem Zeitdruck und in hohen Strahlenfeldern errichtet. Das heraufbeschworene Szenario eines "erneuten Tschernobyl" durch einen Einsturz des Sarkophags ist aber weit übertrieben. Es schürt Ängste, um Gelder zu rekrutieren. Der Shelter Implementation Plan wurde besonders von großen europäischen Baukonzernen zusammen mit ukrainischen Ministerienvertretern entwickelt. Er ist in entsprechenden Gremien (wie IAEA, EBRD, G7) lobbyiert.

 

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