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Allgemeines 

Das Kernkraftwerk Astravets war bisher ein Projekt basierend auf Überlegungen aus den 1980er Jahren. Durch den Zerfall der Sowjetunion und den unmittelbaren Eindruck Tschernobyls wurden die damaligen Pläne auf Eis gelegt und erst nach dem Jahr 2000 wieder weiterverfolgt. Das KKW Astravets wird das erste KKW in Weißrussland sein. Nach einer Ausschreibung für vorerst zwei Blöcke mit geplantem Betriebsbeginn 2017 und 2019 könnten acht Jahre später zwei weitere Blöcke ans Netz genommen werden (2025 und 2026).

Als alternativer Standort wurde im Rahmen des UVP-Verfahrens Chyrvonaya Palyana nahe Bykhaw in Verwaltungsbezirk Mahilyow und Kukshynava zwischen Horki und Shkloŭ im Bezirk Mahilyow untersucht.

Weißrussland ist in Bezug auf Erdbeben wenig gefährdet.

An der Ausschreibung beteiligten sich trotz erheblicher Zugeständnisse durch die weißrussische Regierung praktisch keine westlichen Anlagenbauer, da von Beginn an auch eine komplette Finanzierungslösung für das Projekt notwendig war, was die Möglichkeiten der meisten Hersteller übersteigt. Anfang 2009 wurde das Angebot des russischen Anlagenbauers Atomstroiexport (ASE) unter Federführung der St. Petersburger Sektion ausgewählt und unterzeichnet.

Zur Errichtung gelangen sollen in Bauabschnitt 1 zwei WWER-1200 Reaktoren mit jeweils 1160 MWe (brutto) bzw. 1120 MWe (netto) Produktionsleistung im Rahmen des Konzepts AES-2006. Die Errichtungskosten für die schlüsselfertige Anlage (Bauabschnitt 1) werden auf etwa 6,5 Milliarden Euro geschätzt. Dabei erfolgt die Vergabe eines Kredits fast über den gesamten Betrag durch russische Banken. Zur Absicherung der Risiken wird eine gemeinsame Vermarktung des Stroms angestrebt. Mit der Inbetriebnahme der beiden ersten Blöcke könnten etwa 50 % des weißrussischen Strombedarfs gedeckt werden. Der durchschnittliche Strombedarf der 9,5 Millionen Weißrussen liegt mit etwa 3.500 kWh/Jahr weit unterhalb der Hälfte des österreichischen Pro-Kopf-Verbrauchs (etwa 8.200 kWh/a).

Weißrussland besitzt nur wenige natürliche Ressourcen und Gegebenheiten zur Stromgewinnung. Es verfügt weder über größere Fließgewässer mit Gefälle, noch über nennenswerte Vorkommen fossiler Brennstoffe. Große Potenziale hat das dünn besiedelte Land (46 Einwohner/km2) im Bereich der Biomasse. Im Bereich der Biomassenutzung werden Anstrengungen unternommen, die vorwiegend auf Wärme und weniger auf Strom abzielen. Photovoltaik ist für Weißrussland relativ teuer. Die technischen Voraussetzungen wären jedoch, obwohl Weißrussland nördlicher gelegen ist, mit jenen in Deutschland vergleichbar. Das kontinentale Klima und die Binnenlage setzen der Windenergienutzung Grenzen. Programme zur effizienten Stromnutzung wurden initiiert und besitzen noch erhebliches Potential, ein Verbrauchsanstieg ist aber in den nächsten Jahren, bei einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in Weißrussland, dennoch zu erwarten.

Für das Kernkraftwerk soll, wie in der Vergangenheit auch schon für andere industrielle Großprojekte, eine eigene Stadt errichtet werden, in der die Arbeiter und Angestellten mit ihren Familien leben sollen.

Vom Einstieg in die Kernenergie erhofft sich das Land, das auf dem Gebiet der Kernenergie oder auch bei erneuerbaren Energieträgern über geringe eigene Ressourcen verfügt, einen Innovationsschub und mehr technologische und wirtschaftliche Selbständigkeit. Derzeit wird praktisch die gesamte Energie des Landes durch russische Quellen (Gas und Öl) bereitgestellt.

Bei der bevorstehenden Finanzierung, der Umsetzung und dem Betrieb des Kernkraftwerksprojekts in enger Kooperation mit Russland, wird sich an dieser Abhängigkeit im Energiesektor aber voraussichtlich wenig ändern. Das Projekt KKW Astravets wird durch den weißrussischen Staatskonzern Belnipienergoprom als Generalplaner projektiert. Die wissenschaftliche Unterstützung erfolgt durch das Vereinigte Kraftwerks- und Kernforschungs-Institut SOSNY der Weißrussischen Akademie der Wissenschaften (Minsk). In inhaltlicher und technischer Hinsicht sind der Reaktordesigner Gidropress und der Generalauftragnehmer Atomstroiexport  (ASE) federführend.


Wichtige Zahlen im Überblick

  

  Reaktortyp Leistung (MW elektrisch) Fertigstellung Voraussichtlich Betrieb bis
Astravets 1 Druckwasserreaktor, WWER-1200, Anlage AES-2006 11201 (1160)2 2021 2076 geplant
Astravets 2 Druckwasserreaktor, WWER-1200, Anlage AES-2006 11201 (1160)2 2022 geplant 2078 geplant
         

1Nettoleistung ohne Eigenbedarf
2Bruttoerzeugung inklusive Eigenbedarf

  • Entfernung von Wien (Luftlinie): etwa 950 Kilometer
  • Anteil der Anlage an der Stromerzeugung in Weißrussland: geplant 50 % ab 2019
  • Anteil der Stromerzeugung aus Kernenergie in Weißrussland: geplant 18 TWh/a ab 2019
  • Jahresstromerzeugung der Anlage: Anlage in Bau, geplant 18 TWh/a ab 2019
  • Jahresstromerzeugung in Weißrussland: 34 TWh (2010)

Technische Spezifikationen und Sicherheitssysteme

Technische Spezifikationen

KKW Astravets basiert auf dem Anlagentyp AES-2006 des russischen KKW-Bauers Atomstroiexport (ASE). Beide Blöcke der ersten Baustufe und gegebenenfalls auch die der zweiten sollen baugleich ausgeführt werden. Es handelt sich um Druckwasserreaktoren mit 3200 MWth thermischer Leistung und 1160 MWe (brutto) beziehungsweise 1120 MWe (netto) elektrischer Leistung nach Abzug des Eigenbedarfs der Anlagen.

AES-2006/WWER-1200 basiert auf der WWER-1000/W320-Technologie, wie sie in KKW Temelin, Saporoschje (UA), Juschnij Ukrainsk (UA), Balakovo (RF), Rostow (RF) und anderen Standorten errichtet wurde. WWER-1200 ist eine Weiterentwicklung, die verbesserte ökonomische und technologische Anforderungen erfüllt und neue Sicherheitskonzepte integriert. WWER-1200-Anlagen befinden sich etwa in China, Russland und Indien in Errichtung, weitere sind im fortgeschrittenen Planungsstadium. Das AES-2006 Konzept wird der Generation drei der Druckwasserreaktoren zugeordnet und besteht aus einem Reaktordruckbehälter mit vier Kühlkreisläufen und liegend angeordneten Dampferzeugern. Im Maschinenhaus befindet sich ein groß dimensionierter Turbinen-Generator-Satz mit 1200 MWe Ausgangsleistung. Die digitalen Instrumentierungs- und Kontrollsysteme (I&C) basieren teils auf Siemenssystemen. Das Primärsystem wird im Temperaturbereich zwischen 298,2 und 328,9 °C, bei einem Druck von 162 bar (1,62*107 Pa) betrieben. Pro Stunde wälzen die vier Hauptkühlmittelpumpen 86.0000 Tonnen Wasser um (Kernmassenfluss). Die Turbine verarbeitet bei Auslegungswerten 6610 Tonnen Dampf pro Stunde. Die jährliche Servicepause soll 25 Tage nicht übersteigen. Das WWER-1200 gilt als kompatibel mit den entsprechenden IAEA-Guidlines und den „European Utility Requirements“ – EUR. Das WWER-1200 Design wird, wie von österreichischer Seite angeregt, auch dem europäischen Stresstest nach Fukushima unterzogen.

Sicherheitssysteme

Das nukleare Dampferzeugungssystem besteht aus einem WWER-1200 der Reaktorgeneration drei. Nach Lizenzdokumenten beträgt die statistisch ermittelte Kernschadenshäufigkeit (Kernschmelze) weniger als 10-5. Durch mehrfach und unterschiedlich ausgeführte Rückhalte- und Sicherheitssysteme wird statistisch eine Freisetzungswahrscheinlichkeit großer Mengen an Radioaktivität bei jedem 100-sten Kernschadensfällen erwartet, was eine Freisetzungswahrscheinlichkeit – für eine großen Freisetzung mit vorhergegangenem Kernschaden - von kleiner 10-8 entspricht und um einen Faktor 100 bis 500 besser als bei gegenwärtig betriebenen, älteren Anlagen ist.

Sicherheitssysteme im Einzelnen:

  • Doppelschaliges Volldruck-Containment, das alle nuklearen Komponenten umschließt und Schutz vor schweren Flugzeugabstürzen bieten soll
  • Vier unabhängige Sicherheitssysteme auf allen Ebenen (4 x 50 %) – das heißt es werden beliebige zwei Systeme der vier vorhandenen benötigt, um im Schadensfall die sichere Funktion zu gewährleisten
  • Verbesserte Erdbebensicherheit von Gebäude und Komponenten gegenüber WWER-1000
  • Spezielle Einrichtungen für das Management von schweren Unfällen (Severe Accident Management engineering features) mit H2-Management, PAR (passives System zur Nachzerfallswärme-Abfuhr), Core-Catcher für ausgetretene Kernschmelze etc.
  • Passives Containment Wärmeabfuhrsystem im Falle auslegungsüberschreitender Störfälle (passive Funktionsweise ohne Pumpen oder Strom)
  • Unabhängigkeit von externem Stromnetz für mindestens 72 Stunden
  • Kühlwassertanks innerhalb des Containments
  • Sprinklersysteme werden nicht zur Abführung der Nachzerfallswärme benötigt
  • Niederdruck Sicherheitseinspeisesystem zur Abfuhr der Nachzerfallswärme
  • Vier Notstromdiesel, wassergekühlt (4 x 100%) - das heißt jeder einzelne der vier ist im Schadenfall für die sichere Funktion ausreichend
  • Tiefengründung von Maschinenhaus und Reaktorgebäude zur Beherrschung starker Deformationen im Untergrund
  • Wasserrückführung und Kreislaufschluss des Kondensatorspeisewassers im Falle der Verwendung von Kühltürmen
  • Hochdrucknoteinspeisesystem in mehrfacher Auslegung, Akkumulatoren
  • Brandmelde- und Bekämpfungsanlagen, konsequente Brandabschnittsgliederung
  • Strahlenmonitoringsysteme innerhalb und außerhalb der Anlagen für alle Strahlungsarten
  • Notabschaltsysteme mittels Kontrollstäben und über die rasche Erhöhung der Borsäurekonzentration bei zahlreichen Auslöseparametern

Die wichtigen Sicherheitssysteme sind mehrfach und mit eigener Signalverarbeitung und Stromversorgung ausgeführt, um auch bei Systemversagen die entsprechenden Messwerte auslesen zu können. Der Stabeinwurf zur Notabschaltung erfolgt bei Energieausfall automatisch unter Verwendung  der Schwerkraft.

Mithilfe der Sicherheitssysteme soll gewährleistet werden, dass Unfälle die häufiger als mit einer Wahrscheinlichkeit  von 10-6 auftreten (Auslegungsstörfälle), auch für den Fall, dass das wirksamste Sicherheitssystem selbst versagt, sicher beherrscht werden. Vorfälle mit größerer Eintrittswahrscheinlichkeit (antizipierte Betriebsereignisse) unterliegen schärferen Kriterien. Vorfälle mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit werden zum Teil nicht mehr oder nur teilweise beherrscht.


Kritikpunkte

Selbst wenn Weißrussland außerordentlich abhängig von externer Energieversorgung ist, stellt sich die Frage ob die gewählte Ausrichtung – Kernenergie - für die Stromerzeugung mit starker technologischer und wirtschaftlicher Bindung an Russland zielführend ist. Die überwiegend desolate wirtschaftliche Situation schränkt den Bewegungsspielraum nicht nur in Energiefragen erheblich ein. Die gewählte Finanzierungsvariante sichert zwar eine Bereitstellung von Strom über längere Zeiträume, schränkt aber zukünftige Entscheidungsmöglichkeiten bei der Wahl der Energiequellen noch weiter ein. Ein verstärkter Ausbau erneuerbarer Energiequellen hat international keine namhaften Investoren gefunden, was auf Grund der in Weißrussland schwierigen nationalen Finanzierung zu Defiziten in diesem Bereich und auch mit zur Entscheidung für die Kernenergievariante führte.


Bisherige schwere Stör- und Zwischenfälle

Das KKW befindet sich in Bau. Bisher kam es zu keinen Störfällen mit  Kernschaden oder der Freisetzung großer Mengen an Radioaktivität in WWER-1200 oder WWER-1000 Anlagen.


Internationale Forderungen

Weißrussland ist nicht Mitglied der Europäischen Gemeinschaft und auch kein Beitrittskandidat. Weißrussland hat eine gemeinsame Grenze mit den EU-Staaten Estland, Lettland Litauen und Polen. Zum Teil kommt Kritik aus diesen Ländern zum geplanten Vorhaben der Errichtung des KKW Astravets. Der Standort ist wenige dutzend Kilometer von der litauischen Grenze entfernt. Zum Projekt wurde ein grenzüberschreitendes UVP-Verfahren sowie auch öffentliche Anhörungen, etwa  in Österreich, durchgeführt. Bei der Beurteilung der Kritik aus den EU-Anrainerstaaten darf nicht übersehen werden, dass das Projekt energiewirtschaftlich mit Kernenergieplänen einiger dieser Staaten kollidiert. Die Kritik aus der Ukraine als südliches Nachbarland reflektiert in gewisser Weise die Ambivalenz, die im Fall der Kernenergie zwischen idealisierter Selbst- und rationaler Fremdbeurteilung herrscht. So befand sich das KKW Tschernobyl nur wenige Kilometer südlich der weißrussischen Grenze in der Ukraine. Die Ukraine stellt etwa die Hälfte ihres Stroms mit Kernkraftwerken (wesentlich älterer russischer Bauart) her, während Weißrussland mit knapp 2500 km2 den größten Teil der Tschernobyl bedingten Sperrzone zu tragen hat (1650 km2 innerhalb der Ukraine). Abseits davon könnte die Wirtschaftlichkeit geplanter Neuanlagen etwa in Rowno (Ukraine) oder Khmlenitzki (Ukraine) trotz der großen Entfernung der Standorte negativ beeinflusst werden.


Position der Wiener Umweltanwaltschaft

Die Wiener Umweltanwaltschaft setzt sich für nachhaltige Energieerzeugung und Strombereitstellung ein. Wie im vorliegenden Fall von Weißrussland bestimmen ökonomische Rahmenbedingungen die Wahl der Energiesysteme mit. Es scheint daher sehr wichtig auch international Anreize zu schaffen, wie in erneuerbare Energieträger und Energieeffizienztechnologien investiert werden kann und nicht durch Kernkraftwerkserzeuger vollfinanzierte Kernkraftwerke – mit allen nachfolgenden Abhängigkeiten - als scheinbar einzige Option für schwache Volkswirtschaften verbleiben. Die Wiener Umweltanwaltschaft beobachtet im Rahmen bilateraler Treffen auch den Stand des weißrussischen Kernenergieprogramms, sowie des KKW-Projekts Astravets und vertritt im Rahmen dieser die Interessen der Wiener Bürger/innen.


Verwendete Quellen und Links

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